Distanz als Lebensmittel
In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sollen die Menschen Abstand voneinander halten. Das fällt vielen schwer. Dabei ist der Umgang mit Distanzierung ein Werkzeug der menschlichen Lebensführung, sagt der Philosoph Prof. Dr. Christian Bermes im Interview. Teil 8 der Serie „Mit der Corona-Krise umgehen“.
- Prof. Dr. Christian Bermes (Foto: privat)
Herr Prof. Bermes, ist es nicht paradox, dass wir uns in Corona-Zeiten solidarisch verhalten sollen, und zwar so, dass wir ausgerechnet unsere sozialen Kontakte weitestgehend unterbrechen sollen? Wir sollen also Abstand voneinander halten, um erst später wieder neue Nähe zu ermöglichen.
Prof. Dr. Christian Bermes: Ja, auf den ersten Blick könnte dies paradox erscheinen, aber bei näherem Hinsehen wahrscheinlich nicht mehr. Denn wir kennen selbstverständlich viele Formen der Solidarität, die nicht auf einen unvermittelten Kontakt angewiesen sind. Beispielsweise sind die klassischen Sozialversicherungssysteme in modernen Gesellschaften nicht darauf angelegt, dass es eine direkte Beziehung zwischen den Versicherten geben müsste. In der aktuellen Situation werden wir eigentlich nicht mit einem Paradox konfrontiert, sondern es wird wieder sichtbar, dass soziale Kontakte auf vielfältige Art vermittelt sind und keineswegs immer und notwendig auf Intimität beruhen.
„Soziale Kontakte beruhen keineswegs immer und notwendig auf Intimität.“
In der gegenwärtigen Corona-Pandemie scheint „Social Distancing“ eine der probaten Maßnahmen zu sein, den Kontakt zwischen den Menschen und damit die Anzahl von Infektionen zu verringern. Wobei der Begriff im Deutschen missverständlich ist, denn Personen sollen ja nicht gesellschaftlichen Abstand zueinander halten, sondern räumliche Distanz.
Da haben Sie recht, der Ausdruck „Social Distancing“ ist missverständlich. Denn es geht nicht um eine Klassifikation oder eine Bewertung. Übrigens war es Nietzsche, der dies mit seiner bekannten These vom „Pathos der Distanz“ eher im Blick hatte. „Social distancing“ meint aber noch grundsätzlich etwas anderes als eine Technik, um Pandemien einzudämmen. Distanzierung bezeichnet ein Prinzip menschlicher Lebensführung. Formen der Nähe werden sicherlich gesucht, sie werden aber auch immer wieder aufgelöst und neu gestaltet, und vor allen Dingen auch mit immer neuen Medien vermittelt. Es handelt sich hier nicht um einen statischen Zustand, weder im Falle der Nähe noch im Falle der Distanz, darum spreche ich lieber von der „Plastizität von Nähe und Distanz“.
- In Corona-Zeiten heißt es Abstand voneinander zu halten (Foto: Pixabay)
Wir Menschen sind soziale Wesen, wir brauchen psychische und physische Nähe, zumindest zu den Personen, die uns lieb und teuer sind. Natürlich funktioniert das nur gut im Wechsel von Nähe und Distanz. Doch derzeit lautet das Primat eindeutig Distanzierung. Wird unsere Gesellschaft dadurch eine andere werden?
Im Blätterwald findet sich so manche raunende Behauptung, dass alles anders wird. Entweder ist dies eine Trivialität, denn die Organisationsformen menschlicher Gesellschaft ändern sich fortwährend, wenn auch sehr träge. Oder aber es ist eine Verheißung, dann würde man allerdings gerne wissen, von welchem übergeordneten Standpunkt eine derart sichere Behauptung über den Wandel der Gesellschaft getroffen wird. Das geht immer schief. Viel interessanter als solche effektheischenden Thesen scheint mir eher die Frage zu sein, was sich eigentlich nicht ändern wird. Das Experiment beispielsweise, das an Schulen und Universitäten unter dem Schlagwort der Digitalisierung durchgeführt wird, ist in allen Richtungen offen – es kann auch scheitern. Und wir sehen gerade, dass wieder die Bedeutung und Nichtersetzbarkeit von klassischen Lehrveranstaltungen erkannt wird.
Warum müssen wir Ihrer Meinung nach soziale Distanz nicht als bedrohlich empfinden?
Natürlich kommt es gegenwärtig zu Erfahrungen, die schmerzlich und belastend sind. Wenn Kinder ihre Spielfreunde und Großeltern nicht mehr einfach treffen oder wenn klassische Familienfeste wie Hochzeiten und Kommunionfeiern nicht mehr durchgeführt werden können, ist dies alles andere als eine Kleinigkeit, die man so eben mal wegsteckt. Auch ist die Schließung der Kirchen für Gläubige keine Trivialität. Hier werden stabilisierende und orientierende Routinen infrage gestellt, zweifellos. Menschen reagieren aber auch auf solche Erfahrungen, indem neue Wege gesucht werden, um wieder neuen Halt zu gewinnen. Und hier zeigt sich, dass Distanzierung nicht etwas ist, das uns einfach nur widerfährt, sondern dass der Umgang mit Distanzierung ein Werkzeug der menschlichen Lebensführung ist, gleichsam ein Lebensmittel, um Orientierung zu gewinnen und ein Selbst- und Weltverständnis auszubilden.
„Formen der Nähe werden sicherlich gesucht, sie werden aber auch immer wieder aufgelöst und neu gestaltet, und vor allen Dingen auch mit immer neuen Medien vermittelt.“
Distanzierung kann aber auch negative Folgen haben: Eine räumliche Trennung von Menschen kann Einsamkeit und soziale Isolation auslösen.
Auch hier neige ich dazu, immer das ganze Spektrum der menschlichen Existenz im Blick zu haben. Denn auch in Massenveranstaltungen, in denen Distanzen zusammenbrechen, entstehen Pathologien – im schlimmsten Fall sogar bis hin zu lebensbedrohlichen Exzessen. Dies kennen wir aus der Geschichte und der Gegenwart. Also auch die größte Nähe kann negative Folgen haben. Man ist gegenwärtig nicht gut beraten, Distanz und Nähe einfach gegeneinander auszuspielen. Der Punkt ist vielmehr, die jeweiligen Spiele der Vermittlung von Nähe und Distanz intakt zu halten.
Ist es nicht ein gravierender Unterschied, ob ich mich selbst für Distanzierung entscheide oder ob sie vom Staat verordnet wird?
Hier sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an, der auch für unsere politische Ordnung entscheidend ist. Es ist kein Zufall, dass neben der Politischen Philosophie auch beispielsweise Verfassungsrechtler darauf hinweisen, dass in einer liberalen Demokratie keineswegs alles möglich ist.
Zuerst will ich auf einige Aspekte hinweisen, die das Bild eines politischen Ausnahmezustands relativieren. Die politische Diskussion in Deutschland hat erstens dazu geführt, dass beispielsweise keine Ausgangssperren verhängt worden sind, es geht um die Einschränkung von Kontakten. Ausgangssperren in einem strikten Sinne sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich und politisch problematisch. Zweitens ist jede Maßnahme dieser Art nur akzeptabel, wenn sie befristet ist. Und drittens schließlich sehen wir auch, dass die Idee der Öffentlichkeit, die für eine liberale Demokratie wichtig ist, keineswegs zusammengebrochen ist. Im Gegenteil, es wird beispielsweise sehr lebendig darüber gestritten, welche Maßnahmen in welcher Form zurückgenommen werden.
„Man ist gegenwärtig nicht gut beraten, Distanz und Nähe einfach gegeneinander auszuspielen.“
Auf zwei Punkte will ich allerdings auch aufmerksam machen: Nicht akzeptabel ist es, wenn in einer liberalen demokratischen Ordnung die Organe der Exekutive ohne parlamentarische Kontrolle handeln – weder im Bund noch in den Ländern und auch nicht an Universitäten. Es ist stets dafür Sorge zu tragen, dass die Kontrollinstanzen ebenso intakt bleiben. Und zweitens zeigt die jetzige Situation, dass politische Repräsentation und Verantwortung nicht delegiert werden kann. Expertise ist wichtig, doch eine Expertenregierung ist nicht das Ideal einer liberalen Demokratie. Virologen sind gute oder schlechte Wissenschaftler, aber sicherlich keine gewählten Volksvertreter. Es ist wenig wünschenswert, wenn das öffentliche Leben nur noch als ein großes medizinisches Experiment betrachtet wird und Bürger nur noch als wirkliche oder potentielle Patienten wahrgenommen werden. In einer solchen Gesellschaft wird man nicht leben wollen.
- Mit der Corona-Krise umgehen heißt auch, die Plastizität des kulturellen Spiels von Nähe und Distanz zu beherrschen (Foto: Colourbox)
Der Philosoph Hans Blumenberg hat auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, geantwortet: „durch Distanz“. Was genau meint er damit?
Blumenberg schreibt dies in seinem nachgelassenen Buch „Die Beschreibung des Menschen“. Er macht damit auf den Grundbestand der menschlichen Existenz aufmerksam, dass Menschen nicht einfach in eine Umwelt, ein Habitat oder die Natur eingefügt sind, sondern sich immer zu sich und der Welt in einem Verhältnis der Distanzierung verhalten. Diese These der Philosophischen Anthropologie wird uns gerade wieder vor Augen geführt.
Zur Person
Christian Bermes ist seit 2009 Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Ethik, Philosophischen Anthropologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie und Kulturphilosophie.
Essay
Der wissenschaftliche Essay „Wie man Distanz gewinnt“ von Prof. Dr. Christian Bermes ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 8. April 2020 erschienen. Die digitale Variante des Aufsatzes kann hier nachgelesen werden: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/leben-in-der-corona-pandemie-wie-man-distanz-gewinnt-16715095.html
Datum der Meldung 28.04.2020 00:00