Bildungstheoretische Erkundungen der Krise

Ein Projektseminar zur Pandemie-Krise?

Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 wurde am 11.03.2020 von der Weltgesundheitsorganisation WHO zu einer Pandemie erklärt. Darauf folgten Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsgeschwindigkeit, die nur wenige Wochen zuvor undenkbar gewesen waren. Alltagsgewohnheiten und öffentliche Begegnungsformen verloren ebenso wie die Ausübung individueller Freiheitsrechte ihre scheinbare Selbstverständlichkeit.

Im Projektseminar "Negativität und Transformation. Bildungstheoretische Erkundungen der Pandemie-Krise", das dem Studienbereich Erziehungs- und Bildungsphilosophie im Master Erziehungswissenschaften (AEW M3) zugeordnet ist, wurde im Sommersemester 2020 gemeinsam versucht, einigen der mit der Ausbreitung des Virus sowie den Eindämmungsmaßnahmen einhergehenden Irritationen und Herausforderungen auf die Spur zu kommen. Es ging und geht bei diesen Erkundungen nicht bereits um Lösungen, Handlungsempfehlungen oder gar um Politikberatung. Vielmehr zielten die Auseinandersetzungen darauf, unterschiedlichen Aspekten, Erfahrungen und Fragen der Gegenwart auf eine Weise Ausdruck zu verleihen, dass sie in ihren erziehungswissenschaftlichen und bildungsrelevanten Problemgehalten diskutierbar werden.

In den Worten Hegels besteht der Anspruch der Philosophie darin, die eigene Zeit in Gedanken zu fassen. Dass dies eine unendliche Aufgabe ist, in der jede zeitdiagnostische Theoriebildung von den Entwicklungen selbst überholt zu werden droht, steht selten so deutlich vor Augen, wie in einer so umfassenden Krise vermeintlicher Gewissheiten.

 

Zur Konzeption und zum Seminaraufbau

Das Projektseminar war entlang von vier gemeinsamen Videokonferenzen in drei Arbeitsphasen eingeteilt: Zunächst ging es darum, über die eigenen subjektivien Erfahrungen und Betroffenheiten hinaus eine Grundlage an sozialwissenschaftlichen und insbesondere bildungstheoretischen Reflexionsformen zu erarbeiten. Hierzu diente eine Auswahl an verbindlicher Literatur, die zunächst das Verhältnis von Bildung, Negativität und Transformation zu bearbeiten half, um dann im zweiten Schritt auf gesellschaftstheoretische Perspektiven zu den Begriffen Ansteckung, Prävention, Vulnerabilität und Medialität einzugehen.

Parallel dazu wurde in drei Kleingruppen an der Herausbildung eigener Themenschwerpunkte gearbeitet: Das Anliegen, die Pandemie-Krise im Hinblick auf bildungstheoretisch wie erziehungswissenschaftlich relevante Problemstellungen zu fokussieren, macht eine Aufteilung und Klärung konkreter Themenfelder nötig. Die zweite Arbeitsphase bestand entsprechend in drei gruppenspezifischen "Erkundungen" aktueller Entwicklungen, wobei die gemeinsam besprochenen Texte mit der Analyse von Medienberichten wie Zeitungsartikeln, Internetbeiträgen usw. verknüpft wurden. Dabei waren folgende Fragen in Bezug auf das jeweilige Projektthema wichtig: Was sind die zetralen pandemiebedingten Veränderungen? Welche Selbstverständlichkeiten werden irritiert? Inwiefern findet ein Umdenken statt? Welche Gegenstimmen und Kontroversen gibt es hierbei? Inwiefern sind die Veränderungsprozesse offen, unabgeschlossen oder umkämpft?

Die dritte Arbeitsphase bezog sich auf die Aufbereitung der Ergebnisse zu einer Projektpräsentation, die im Rahmen einer Videokonferenz erfolgte und eine abschließende Überarbeitung der Ergebnisdarstellung in Form von Postern beinhaltete, die im Folgenden veröffentlicht werden.

Weitere Informationen zur Seminarkonzeption und zur verwendeten Literatur finden Sie hier.

 

Ergebnisse des Projektseminars

Gruppe I: Verschwörungsmythen und Fake News in Zeiten der Corona-Pandemie

beschäftigte sich mit dem Problem der Vernunft und Mündigkeit unter Pandemie-Bedingungen. Welchen Informationen ist auf welcher Grundlage zu trauen, wenn das als gesichert geltende Wissen über die Wirkungen des Virus wie auch über die politisch angemessenen Maßnahmen und deren Nebenfolgen immer wieder an Grenzen stößt und revidiert werden muss? Wie entwickelt sich die gesellschaftliche Stimmung entlang von Einsicht und Unterordnung bzw. von Skepsis und Leugnung? Wie ist das Spannungsfeld von kritischer Urteilskraft und Corona-Relativierung einzuschätzen?

--> PLAKAT Gruppe I

 

Gruppe II: Digitales Lernen in Corona-Zeiten

interessierte sich für die Maßnahmen, mit denen der Ausfall von Präsenzveranstaltungen in Schulen und Universitäten zu kompensieren versucht wurde. Im Vordergrund standen hier die Erfahrungen mit der Digitalisierung von Unterricht und Hochschullehre sowie den Möglichkeiten und Kehrseiten des Home-Schooling. Können E-Learning-Formate die gemeinsame Auseinandersetzung und die Begegnung mit Anderen in pädagogischen Räumen ersetzen? Welche Übersetzungsprobleme stellen sich hier? Wer kann an den Formaten digitaler Bildung partiziperen - und welche neuen Ausschlüsse und Ungleichheiten entstehen durch diese?

--> PLAKAT Gruppe II

 

Gruppe III: Vulnerabilität in der Corona -Krise

fokussierte das Verhältnis von Verletzlichkeit, Solidarität und Ungleichheit in der Corona-Krise. Während in den öffentlichen Debatten die "Solidarität durch Distanz" (Angela Merkel) damit bergündet wird, insbesondere spezifische "Risikogruppen" zu schützen, stellt sich die Frage, welche Effekte die Ungleichheit vor dem Virus wie auch vor den Schutzmaßnahmen mit sich bringen. Einerseits erfahren manche die Kennzeichnung als Angehörige/r einer besonders vulnerablen Gruppe als eine Bevormundung und die daraus resultierende 'Abschottung' als Isolation und Vereinsamung. Andererseits stellt sich die Frage, welche Gruppen von dieser Aufmerksamkeit eher ausgeschlossen sind und gar nicht erst als schutzbedürftig in Betracht kommen.

--> PLAKAT Gruppe III

 

Weiterführende Links und Materialien

Während des Seminars haben wir uns auf zeitgleich entstehende Projekte - nicht nur aus dem Bereich der Erziehungs- und Sozialwissenschaften - bezogen, die ein vergleichbares Reflexionsanliegen verfolgen. Besonders hingewiesen sei an dieser Stelle auf:

 

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