Gesellschaftliche Sicherheit als normative Bindung und kulturelle Orientierung

Die dem Menschen entsprechende Umwelt ist künstlich. Menschliche Umwelt ist das, was Menschen aus ‚ihrer’ Natur machen und auch aus sich selbst zu machen versuchen: Kultur. Zur ‚Natur’ des Menschen gehört es, ‚Kulturwesen’ zu sein und Kultur zu schaffen. Es ist eine Kultur, die durch die – aus dem gebrochenen Welt- und Selbstbezug (Helmuth Plessner; Walter Schulz; Hans-Georg Soeffner) prinzipiell gegebene – Offenheit und Erweiterbarkeit des menschlichen Handlungspotenzials strukturell auf Veränderung angelegt ist. Pointiert gesagt: Der Mensch hat keine natürliche Umwelt, sondern muss sich diese immer erst aufbauen. Dabei sind Menschen als ‚Spezialisten auf Nichtspezialisiertsein’ riskierte Wesen: immer dem eigenen Verdacht ausgesetzt, unfertig und das heißt auch verbesserungsbedürftig zu sein – ihrem Sein ist ein Sollen beigegeben. Nicht zuletzt daraus resultiert die hintergründige (jüdisch-christliche) Empfindung und Erfindung mit einer Erbsünde belastet zu sein. Eben weil wir zwischen guten und schlechten Alternativen unterscheiden können und uns zwischen ihnen entscheiden müssen, sind wir ‚sündenfähig’. Weder der Gott noch das Tier brauchen eine Ethik. Menschen dagegen kommen ohne sie nicht aus.

Dementsprechend leben Menschen in moralischen Welten. Werte, Normen, Institutionen, Kommunikationsmuster, Medien, gesellschaftliche Ordnungen sind Teil der geistig-sozialen Umwelten, die Menschen sich schaffen. Wie diese Umwelten sind auch alle ihr zugehörigen gesellschaftlichen Konstruktionen ständigen Veränderungen unterworfen. Als eine der Ausdrucksformen der ‚natürlichen Künstlichkeit’ (Helmuth Plessner) des Menschen werden solche Konstruktionen von ihm entworfen, verteidigt, zerstört und ersetzt. Gesellschaften, in denen verbindliche Normen nicht von weltlichen oder religiösen Zentren und Autoritäten geschaffen und durchgesetzt werden, sondern auf einem immer neu herzustellenden, mehr oder weniger plebiszitären Konsens beruhen, tendieren einerseits zu einem beschleunigten Normenwechsel. Andererseits bemühen sie sich darum, einen ‚Kernbestand’ an Grundwerten zu formulieren und zu sichern, um dem Wertewandel an eine feste Struktur zu binden, eine kulturelle Orientierung zu geben. Je pluralistischer Gesellschaften allerdings zusammengesetzt sind, umso abstrakter fällt die Formulierung von allgemein verbindlichen Normen aus, umso labiler und unsicherer wird die kulturelle Orientierung, und umso weniger sind Normen und Werte dementsprechend in konkrete, situationsbezogene Handlungsanweisungen umzusetzen. Dass Menschen über verbindliche Normen verfügen und sich an ihrer Kultur orientieren, sich durch die Ausbildung von Handlungsmustern und Institutionen ‚Entlastungsmechanismen’ (Arnold Gehlen) und gesellschaftliche Ordnung schaffen, ist – in einem eher trivialen Sinne – universal. Wie dieses Potential konkret aussieht, wie es diskutiert und umgesetzt wird, und woraus und wie sich die unterschiedlichen Problematisierungen und Realisierungen deutend verstehen und ursächlich erklären lassen – dies herauszufinden, ist die ebenso umfassende wie letztlich nur in Bruchstücken erfüllbare Aufgabe der Soziologie (Emile Durkheim; Georg Simmel; Max Weber; Peter L. Berger / Thomas Luckmann).

Vor diesem Hintergrund wendet sich das Projekt empirisch unterschiedlichen Kommunikationskontexten und gesellschaftlichen Feldern zu und schließt insbesondere an jene theoretische Konzeptionen und empirische Arbeiten an, die – allgemein formuliert – Sicherheitskultur als kulturelle Praxis verstehen, mit der Sicherheit in einer Gesellschaft produziert wird (exemplarisch Andreas Anter; Hans-Jürgen Lange / Michaela Wendekamm / Martin Endreß; Benjamin Rampp). Komplementär hierzu fokussiert das Projekt aus einer ethnografischen Perspektive (grundlegend Bronislaw Malinowski, zur aktuellen Forschungspraxis u.a. Stefan Hirschauer; Herbert Kalthoff) speziell die Bedeutung von Bildern und visuellen Daten für die Konstruktion von Sicherheit und rückt somit neben der allgemeinen Frage, wie Sicherheit (und Unsicherheit) beobachtet wird, speziell die Frage in den Mittelpunkt, wie (Un-)Sicherheit in konkreten Handlungszusammenhängen visuell wahrnehmbar gemacht wird. Ziel ist es, mit der Analyse visueller Ausdrucksgestalten und deren Einbettung in konkrete Handlungspraxen Einsichten und Erkenntnisse zu generieren, inwiefern die den Bildern in der Praxis zukommende spezifische Bedeutung einen Beitrag zur Herausbildung von sozialer Sicherheit als normative Bindung und kulturelle Orientierung leistet respektive in welcher Weise sie dazu beiträgt, die Vorstellung von Gefahr- und Risikobewusstsein zu konstruieren.

Die Zielsetzung einer theoretischen, begrifflichen und empirisch-analytischen Durchdringung des Zusammenhangs von Kulturtheorie und kultureller Praxis verankert das Projekt im Cluster „Kultur und Lebensform“. Bezüglich der Frage der Sichtbarkeit kultureller Normen ist das Projekt anschlussfähig an das Cluster „Verkörperung von Kultur“. Mit dem Problem der sozialen Vermittlung kultureller Werten und Normen rücken die symbolische Formen und die rituellen Dimension der Darstellung und Inszenierung, der Vermittlung und der Legitimation von Wissen um sogenannte ‚Sicherheitsfragen’ in den Fokus, d.h. um Sicherheitsrisiken und Sicherheitsoptionen, was das Projekt mit dem Cluster „Kulturelle Öffentlichkeit und die Verbindlichkeit der Sprache“ in die Diskussion bringt.

 

Beteiligte Personen:

Prof. Dr. Jürgen Raab

Sebastian W. Hoggenmüller, M.A.