Verbindlichkeiten popularisierter Wissenschaft
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Transformation, die wissenschaftliches Wissen auf dem Weg vom Zeitschriftenaufsatz zur populären Darstellung erfährt. Richtet sich der Zeitschriftenaufsatz an andere Spezialisten auf demselben Wissensgebiet, so adressiert das populäre Buch oder die TV-Dokumentation Laien (die ihrerseits Wissenschaftler auf einem anderen Gebiet sein können). Die moderne Kultur ist in einem hohen Grade von solcherart popularisiertem Wissen geprägt. Beginnend mit dem Schulunterricht über die tägliche Zeitungslektüre bis hin zu Youtube-Features dringen für Laien aufbereitete Wissensbestände, insbesondere der Naturwissenschaften, tief in die Kapillaren des Selbst- und Weltverhältnisses des modernen Menschen ein. Das Projekt fokussiert den spezifischen Gestaltwandel, den das Wissen erfährt, wenn es gleichsam aus dem Labor auf den Marktplatz tritt.
Ausgangspunkt für die Analyse ist die Wissenschaftsphilosophie des Bakteriologen Ludwik Fleck, der die Genese wissenschaftlicher Tatsachen aus soziologischer, historischer und erkenntnistheoretischer Perspektive erforscht hat. Einen erheblichen Anteil unseres Weltwissens gewinnen wir nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus Büchern (und anderen Medien). Von der ursprünglichen Forschungshandlung hin zum Zeitschriftenaufsatz, von da zum Lehrbuch und schließlich zum populären Buch werden Aussagen apodiktischer, verlieren ihre Vorläufigkeit und werden am Ende zur „bewiesenen Tatsache“. Diese Transformation artikuliert sich in Formulierungen wie „Wissenschaftler haben festgestellt/entdeckt...“. Aus einem schöpferischen wird ein entdeckender Akt: „Die wachsende wissenschaftliche Tatsache verwandelt sich von einem Denkprodukt in einen Gegenstand, wird unpersönlich, selbständig, wird zur Sache.“ (Fleck 1936)
Der Schwerpunkt der Studien liegt auf der Transformation lebenswissenschaftlichen Wissens (z.B. auf den Gebieten der Evolutionsbiologie, Neurophysiologie und Molekulargenetik) von methodisch-hypothetischer zu ontologisch-apodiktischer Verbindlichkeit. Eine solche Transformation liegt vor, wenn aus der methodischen Handlungsanweisung „Tue H so, als ob für S P gelten würde“ die Aussage „S ist P“ abgeleitet wird. Aus Modellen und Metaphern werden dann (vermeintliche) Struktureigenschaften des Erkenntnisgegenstandes. Die Entsubjektivierung der Wissensproduktion geht mit einer Subjektivierung des Objekts einher: Natur, Evolution, Gehirn oder Gene werden anthropomorphe Akteure, die eigenständig das hervorbringen, was unter Laborbedingungen Forscherhandlungen voraussetzt. Das Projekt untersucht in sprach- und erkenntniskritischer Absicht anhand ausgewählter Fallbeispiele diese und weitere mit der Popularisierung einhergehende Kategorienfehler, die durch Bildungsprozesse unser Selbst- und Weltverständnis beeinflussen.
Eigene Vorarbeiten:
- Der menschliche Standpunkt. Perspektiven und Formationen des Anthropomorphismus, Frankfurt a.M. 2011.
- Lebenswelt und Mathematisierung. Zur Phänomenologie der Übergänge, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 7,2 (2013), 235-253.
- Lebensform und lebendige Form. Zum Sinnfundament der Lebenswissenschaften, in: Phänomenologische Forschungen 2015, 33-46.
- Kulturelle und natürliche Tatsachen, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge, hg. v. Michael Quante, Hamburg 2016, 743-752.