Rituale, Identitäten und die Bedeutung historischer Prozesse
Setzen wir voraus, dass Weltbezogenheit ohne Verkörperung(en) nicht möglich ist, d.h. dass Gefühle wie verkörpert stattfindende Interaktion konstitutiv zur Ausbildung von Identitäten und zur symbolischen Kommunikation beitragen. Über einen funktionalisierten Körperbegriff hinausgehend geht es dann um essentielle Verkörperung (Jung, Der bewusste Ausdruck, 2009, 266) mit der Konsequenz, dass letztlich mit dem Körper Kultur und Identität geschaffen wird. Somit gilt: „Somatische und soziokulturelle Verkörperung sind über die sinnhafte Besetzung der physischen Umwelten miteinander verbunden, in denen die Akteure interagieren. Der leitende Gedanke ist dabei der, das Mentale im begrifflichen Rahmen einer Feedbackschleife, eines unauflöslichen Interaktionszusammenhangs von Gehirn, Organismus, physischer und sozialer Umwelt zu betrachten.“ (ebd., 276; Hervorh. MB) Der eigene Leib ist somit nicht nur „Werkzeug zur Durchführung intentionaler Handlungen“, sondern auch „Quelle von interaktionell erschlossenen – und insoweit unverfügbaren – Bedeutsamkeiten“ (ebd., S. 289). Diese Form der Identitätsbildung ist der konstruktiven Kontingenzanerkennung verpflichtet und findet sich deshalb gerade auch in religiös basierten Konzepten (ebd., S. 305). Vor allem Religion lässt episodische, mimetische, mythische und semiotische Weltdeutungsformen – die zumeist prozesshaft und linear begriffen werden – in untrennbarer Verschmelzung erkennen. Ein Beispiel für diese Form verkörperter Mnemotechnik ist die Beschneidung. Angesichts der Diskussionen um das Kölner Landgerichturteils von 2012 eignet sich dieses Ritual in besonderem Maße, um das Verhältnis von kultureller Bindung und argumentativ erhobenen Normen für die Ausbildung von Identität zu reflektieren. Parallel lässt sich das Phänomen der verkörperten Mnemotechnik aber auch in Bezug auf die Vorgabe heiliger Texte (Kanon) im Ritualvollzug nachweisen. Metaphern von der Beschneidung des Herzens (Dtn 10,16) oder dem Schreiben auf die Tafeln des Herzens und das konkrete Anlegen von Gebetsriemen an den Körper, die heilige Texte inkorporieren (Dtn 11,18), verweisen auf eine Art von Verkörperung, die gleichermaßen auf sinnliche und kognitive Erinnerungen abzielt. Auch jüdische Speisevorschriften sind mitunter an bestimmte Narrative rückgebunden und setzen als Verkörperung einer (Gottes-)Erfahrung diese auf Dauer performativ um (vgl. Gen 32,33). Diese und andere Spielarten essentieller Verkörperung sind zu untersuchen und in ihrer Bedeutung für die kulturelle Praxis und ihre soziokulturellen Bezüge ggf. bis in die Gegenwart hinein zu bestimmen.
Methodischer/systematischer Hintergrund
Die Überlegungen bewegen sich im Rahmen von historischer Anthropologie und Textexegese. Aspekte der Ethnologie und philosophischen Anthropologie sind in Zielrichtung einer integrativen Anthropologie ebenfalls berücksichtigt. Im Sinne einer historischen Praxeologie geht es aber nicht nur um literarische und epigraphische Texte, sondern mit K. Ehlich um einen erweiterten Textbegriff (vgl. Bauks, Intertextuality), der z.B. Artefakte oder auch archäologisch rekonstruierbare Raumkonzepte und andere Quellen für Kulturmuster (C. Geertz; D. Fulda) berücksichtigt, die hinsichtlich der historischen Entwicklung des jeweiligen Phänomens ausgewertet werden. Rites de Passage (Beschneidung, Menschenopfer bzw. –weihe) finden ebenso Berücksichtigung wie Menschen- und Weltbildfragen als Beispiele der Verkörperung kultureller Praktiken im Sinne einer multi-sited historiography (Bauks, Physical Attributes; dies., Soul).
Ein weiteres einschlägiges Thema im Verkörperungsdiskurs bilden die Esskulturen, die anhand von materialen (z.B. Geschirr, Kochstellen, phytoarchäologische Untersuchungen) wie auch literarischen Zeugnissen erhoben werden und Aufschluss über die Transformationsprozesse kultureller Praktiken geben. So thematisieren z.B. (religiöse und profane) Mahlschilderungen in Erzählungen, Speisevorschriften in Rechtstexten oder auch ätiologische Referenztexte sowohl die konkrete Einverleibung von Ernährung und ihre Tabus als auch die gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Implikationen, die die kulturellen Praktiken für die Identitätsbildung nach sich ziehen (BMBF-Projekt Sprache der Objekte zum Thema „Esskulturen“).
Ziele
Im Anschluss an historisch-anthropologische Studien zu Menschenopfervorstellungen und ihre literarische Wirkungsgeschichte widmet sich das Projekt zwei bis in die heutige Zeit verbreiteten kulturellen Praktiken und ihrer Genese. Am Ritus der Beschneidung lässt sich paradigmatisch zeigen, dass Konzepte essentieller Verkörperung im Laufe der (Religions-) Geschichte Veränderungen unterliegen: Die Wende religiösen Bewusstseins liegt im Übergang von der rituellen (rite de passage im schriftlosen Raum) zur textuellen Kohärenz (bewusste Demarkation, deren Wertigkeit dank einer Gründungserzählung determiniert wird), auf die zudem im Zuge der Kanonisierung Sanktionierung im Fall von Devianz und Kommentierung (bzw. kulturgeschichtlich notwendige Reaktualisierung) folgen. Weiterhin geht der Prozess der individuellen Wertigkeit und kollektiven Normierung des Ritus einher mit einer Transzendierung des Religiösen: Das Heilige offenbart sich in Schrift, und die Riten werden von der kollektiven Identität in den Dienst der Herausbildung des inneren Menschen überführt, um wiederum im Kollektiv normativen Anspruch zu erhalten (J. Assmann). Die Idee einer solchen Verinnerlichung lässt sich bereits in der althebräischen Begriffsgeschichte von „beschneiden“ (mwl) ablesen, die neben der Bezeichnung des konkreten Ritus zugleich einen metaphorischen Gebrauch belegt (z.B. „Beschneidung des Herzens“; vgl. Dtn 10,16; 30,6; Jer 4,4; u.ö.). Die Traditionen der Beschneidung wurden einerseits semiotisiert und durch das Kriterium der „Verinnerlichung“ angereichert, andererseits aber auch exkarniert im Sinne der Explizierung und Kodifizierung des bislang impliziten Wissens um Rituale, welche angesichts historisch bedingter Brüche und Krisen verloren zu gehen drohen.
Das Projekt widmet sich darüber hinaus Formen von Verkörperung außerhalb von Ritualen wie z.B. der Körperlichkeit altorientalisch-antiker „Seele“-Vorstellungen, der Möglichkeiten von Genderkonstruktion im Zusammenspiel von literarischen, ikonographischen und archäologischen Quellen oder aber einer Erweiterung des Ritualbegriffs im Kontext des Projekts „Esskulturen“ (s. BMBF „Sprache der Objekte“), das neben den konkreten Bezügen auch die Implikationen von Essen für den sozialen, religiösen und gesellschaftlichen Zusammenhalt in synchroner und diachroner Perspektive untersucht.
Literatur
- M. Bauks: Beschneidung zwischen Identitätsmarkierung und substituierter Opferhandlung – kulturell bedingte Deutungen eines schwierigen Ritualtexts (Exodus 4, 24-26), in: M. Bauks, M. Jung, A. Ackermann (Hg.), Dem Körper eingeschrieben – Verkörperung zwischen Leiberleben und kulturellem Sinn, Wiesbaden 2016, 243-270.
- M. Bauks: Physical Attributes of Memorials: Could the tomb of Jephthah and the dietary restrictions of Tekufot give an insight into the intention of Judges 11:29-40?, in: M. Bauks/K. Galor/J. Hartenstein (Hg.) Gender and Social Norms in Ancient Israel, Judaism and Christianity. Texts and Material Culture (Journal of Jewish Studies Supplements), Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2018 (im Druck).
- M. Bauks: The theological implication of child sacrifice in an beyond the biblical context in relation to Genesis 22 and Judges 11, in: K. Finsterbusch, A. Lange, K.F. Römheld (ed.), Human Sacrifice in Ancient Mediterranean Religion and its Later Recurrences, Brill, Leiden et al. 2007, 65-86.
- M. Bauks: Kinderopfer als Weihe- oder Gabeopfer. Anmerkungen zum mlk-Opfer, in: M. Witte / F. Diehls (Hg.), Israeliten und Phönizier. Ihre Beziehungen im Spiegel der Archäologie und der Literatur des Alten Testaments und seiner Umwelt“, Academic Press Fribourg / Vandenhoeck & Ruprecht, Fribourg / Göttingen 2008, 233-251.
- M. Bauks: Jephtas Tochter. Traditions-, religions- und rezeptionsgeschichtliche Studien zu Richter 11,29-40 (Forschungen zum Alten Testament 71), Mohr-Siebeck, Tübingen 2010.
- M. Bauks: Intertextuality in Ancient Literature in Light of Textlinguistics and Cultural Studies, in: dies., Horowitz, W., Lange, A. (Hg.), Between Text and Text. The Hermeneutics of Intertextuality in Ancient Cultures and Their Afterlife in Medieval and Modern Times (JAJ.S 6), Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 2013, 27-46.
- M. Bauks: Menschenopfer in den Mittelmeerkulturen, V&F 56 (2011) 33-44.
- M. Bauks: “Soul-Concepts” in Ancient Near Eastern Mythical Texts and Their Implications for the Primeval History, VT 66 (2016) 181-193.
- M. Bauks: Ex 4:24-26 - the Genesis of the “Tora”" of Circumcision in Post-Exilic and Rabbinic Discourses, in: S. Gillmayr-Bucher/M. Häusl (Hg.), Ṣedaqa and Torah in Postexilic Discourse", Bloomsbury T&T Clark, London/New York 2017, 148-167.
Abgeschlossene Dissertation 2017: Lilli Ohliger, Das Narrativ der Schöpfung. Zur Rezeption alttestamentlicher Schöpfungsmythen in ausgewählter neuerer Literatur (Altes Testament und Moderne 30), LIT-Verlag, Münster 2018.